Dr. Viola Hildebrand-Schat

Kunsthistorikerin aus Frankfurt

Meine erste Begegnung mit dem Werk Henry Kistners war die mit seinem großformatigen Nibelungen-Zyklus, großformatigen Tafeln intensiver Farbigkeit und durchzogen von Farbschlieren. Ungegenständliche oder doch zumindest abstrakte Kompositionen, die der Betrachterphantasie allen Freiraum lassen. So zumindest stellen sie sich auf den ersten Blick dar. Doch geht von ihnen eine eigenartige – ich möchte fast sage einzigartige Sogwirkung aus, der man sich nicht entziehen kann. Die Bilder ziehen an, saugen förmlich den Blick an und dann setzt eine schier unendliche Entdeckungsreise ein, die keineswegs so willkürlich ist, wie es die Bezeichnung „ungegenständlich“ nahelegt. Vor den Augen des Betrachters entfaltet sich in Stück für Stück 10 Sequenzen die bewegte Geschichte des Ring der Nibelungen, vom Raub des Rheingoldes bis zu seiner endgültigen Rückführung zurück in die Fluten den Rheins.

Das Besondere nun an diesen Kompositionen ist ihre erzählerische Kraft, der sich keiner, wer einmal vor diesen Bildtafeln stand, entziehen kann. Es ist die Art und Weise, wie aus Farbspuren und Strukturen Bewegung entsteht, sich das Denken und Handeln der Personen entfaltet. Man kann dem nun entgegenhalten, daß das doch die grundsätzlichen Prinzipien der Malerei seien. Das ist sicher richtig, doch ist damit noch lange nicht die Tiefenschichtigkeit erfaßt. Und eben diese ist es, die das malerische Oeuvre von Henry Kistner auszeichnet. Sie können sich hier vor Ort unmittelbar selbst davon überzeugen. Sie treten vor ein Bild und werden feststellen, je länger sie verweilen, desto intensiver wird der Dialog mit dem Bild. Je öfter Sie schauen, desto mehr wird ihnen das Bild erzählen. Und eben dies ist es, was meines Erachtens den Reiz wirklich guter Kunst ausmacht: ihre Aussage, ihre Bedeutung erschließt sich nicht auf den ersten, auch nicht auf den zweiten Blick sondern entfaltet sich in jeder weiteren Annäherung immer wieder neu und auch anders.

Henry Kistner erzielt diese Tiefenschichtung damit, daß er in seiner Gestaltung zwar frei bleibt, jedem einzelnen Betrachter einen größtmöglichsten Entfaltungsraum für eigene Sichtweisen läßt, dabei aber keineswegs beliebig bleibt oder dem Material allein den Ausdruck überläßt. Die Themensetzungen bleiben bewußt weit gefaßt, wie beispielsweise „Panorama“, „Triumph“, „Taumel“ oder „Blue Leisure“. Sie geben Anregung für eine Betrachtungsweise ohne festzulegen. Sie werden merken, wie sich, wenn sie sich auf die Auseinandersetzung mit dem Bild einlassen, sich ein ganz intensiver Dialog zwischen ihnen und dem Werk entfaltet.

Ähnlich verhält es sich mit dem skulpturalen Werk, von dem Sie hier eine reiche Auswahl zu sehen bekommen. Ähnlich insofern, als auch hier das Seherlebnis sich in der Annäherung in frappierender Weise verändert. Henry Kistner macht sich für seine erzählerische Struktur die Vielansichtigkeit des dreidimensionalen Werks zunutze. Um deutlich zu machen, was ich damit meine und vor allem in welcher Weise sich Kistners Arbeiten auszeichnen, ein kleiner Exkurs zur Betrachtung von Skulptur.

Nachdem die Figur sich aus ihrer architekturgebundenen Position befreit hatte, von der Wand oder aus der Nische hervorgetreten war, gab es nicht länger eine Hauptansicht, der sich alle weiteren Ansichten unterzuordnen hatten. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war mit der figura serpentina im Barock erreicht, wo die geradezu schraubenartigen Windungen förmlich zum Umschreiten der Figur aufforderten und der Gesamteindruck tatsächlich erst im Unrunden der Plastik, aus der Vielansichtigkeit erschloß. Somit ist es der Natur des dreidimensionalen Werkes eingeschrieben, von nahezu allen Seiten betrachtet zu werden.

Doch im Unterschied zu den Figuren von Henry Kistner offenbart die herkömmliche Skulptur ihr Wesen aus einem Blickwinkel und dem Betrachter erschließt sich lediglich die Figur in ihrer Komplexität, wenn er seinen Standpunkt verändert. Doch der Figur selbst fügt sich nichts hinzu. Eine Badende wird immer eine Badende, eine Stehende immer eine Stehende usw. bleiben, unabhängig davon, von welcher Seite man sich ihr nähert.

Bei Henry Kistners Figuren jedoch verhält es sich anders. Was auf den ersten Blick eine schön gestaltete, freie Form ist, entfaltet beim Umrunden eine unglaubliche Körperlichkeit. Aus einem anderen Blickwinkel erfaßt offenbart sich die Skulptur in ihrer gesamten Erotik.

Der Künstler weiß dieses Phänomen zu nutzen. Beim ersten Besuch seines Ausstellungsraumes machte ich die Erfahrung, daß fast alles dort zu sehenden Objekte mich zunächst aufgrund ihrer Formschönheit, ihres Materiales und dessen Bearbeitung gefangen nahmen. Und dann ich mich in beinahe überraschender Weise einer an organische Strukturen, an Körperformen erinnernden Ansicht gegenübersah, als mit wenigen Schritten meinen Blickwinkel verändert hatte, mich gar auf die entgegengesetzte Seite des Objektes begeben hatte. Ich hatte damit eine Grenze überschritten, war in eine Art Intimsphäre vorgedrungen, die mich zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem Objekt veranlaßte. Die vordergründige Schönheit von Material und Form war einem sehr persönlichen Dialog gewichen, der mich in ungeahnte Tiefen vordringen ließ.

Um noch einmal den Bogen zur traditionellen Bildhauerei zu schlagen: während diese Arbeiten ihr Thema unabhängig von ihrer Ansichtigkeit zu erkennen geben, verändern die Figuren von Henry Kistner ihre Aussage. Sie öffnen sich dem Betrachter im Prozeß des Schauens. Es ist, als bestünden sie aus einer äußeren Schale für eine Form der offiziellen Betrachtung und einem inneren Kern, für eine individuellen Dialog. Die Mehransichtigkeit der Skulpturen Henry Kistners enthält zugleich auch ein Erweiterung der Aussage. Aus einer geometrischen Form wird Körper, hinter einer rauhen Oberfläche treten Rundungen weiblicher Formen hervor.

Nähern Sie sich einmal mit dem Bewußtsein um die eigene Intimität, die eine Form in sich träg der mit „Einig“ betitelten Arbeit. Oder betrachten sie „Origo“ unter dem Aspekt der sich abhängig vom Standpunkt verändernden Aussage.

Das Spiel mit Form und Oberfläche auszureizen gelingt Henry Kistner bei den unterschiedlichsten Materialien. Es bearbeitet Sandstein ebenso wie verschiedene Arten von Marmor und Granit, aber auch Holz und Bronze. Jedes Material stellt ihn vor neue Herausforderungen. Allein die Marmorarten unterscheiden sich in ihre Festigkeit, manche sind spröde, neigen zum Splittern. Mit jedem Material läßt sich der Künstler auch eine neue Form der Auseinandersetzung ein. Und das ist den Arbeiten auch wieder anzumerken. Jede einzelne Arbeit ist nicht nur das Produkt einer handwerklichen Gestaltung sondern vielmehr noch das eines intensiven Dialogs zwischen Künstler und den Eigenarten der Substanz.

Nicht jeder Stein eignet sich für jede Form. Das rohe Material trägt seine Form bereits in sich. Es gilt sie freizulegen, aber das gelingt nur, indem man sich auf das zunächst rohe Material einläßt, eine Beziehung zu ihm aufbaut wie zu einer Person, die man im Laufe einer Zeit näher kennenlernen möchte, der Wesen sich erst allmählich erschließt. Die Arbeit des Künstlers setzt also ein lange bevor er überhaupt anfängt, am Material zu arbeiten.

Eine ganz eigene Dynamik entwickeln Arbeiten, bei denen Henry Kistner verschiedene Materialien kombiniert. Ein Beispiel hierfür ist „Bewegung“, eine Art Sandsteinschale, die als Laufbahn für eine Stahlkugel fungiert. Gleichzeitig hat diese Form etwas vollkommen Organisches, ruft ein Stück Natur in Erinnerung, etwa das Blatt einer Pflanze, aus deren Oberfläche ein Auswuchs hervortritt oder ein Tier darüber kriecht. Die Gegensätzlichkeit der Materialien wiederum beinhaltet eine eigentümliche Verspieltheit – sowohl auf Seiten des Künstlers wie auch auf der des Betrachters. Das Objekt lädt dazu ein, ja fordert geradezu auf, die Sandsteinform zu bewegen, die Kugel anzustoßen, den Dialog spielerisch aufzunehmen.

Wie bei dieser Form zum Material als Ausdrucksform hinzukommt, ist es bei den Bronzearbeiten das Licht. Ich will nicht sagen, daß das Licht nicht generell für die Wahrnehmung in ganz besonders bei der Rezeption von Kunstwerken eine eminent wichtige Rolle spielt. Doch gerade bei den Arbeiten aus glatt polierter Bronze entfalten die Lichtreflexe einen eigenen Ausdruck. Sie lassen Rundungen hervortreten, zurückweichende Partien dadurch stärker in den Schatten treten als etwa die stumpfe Oberfläche eines Sandsteins.

Bei aller Vielfalt weißt Henry Kistners Werk eine charakteristische Handschrift auf. Sie ist in er Malerei ebenso spürbar wie im skulpturalen Werk.

Die Eigenart seines Werkes liegt in der intensiven Auseinandersetzung, die die einzelne Arbeit unwillkürlich dem Rezipienten abverlangt. Nur wer sich wirklich ganz auf das Schauen einläßt, wird in die Tiefenstrukturen der Werke vordringen, wird die Geschichten auffinden, die sie erzählen und ihre sehr persönliche Intimität erfahren.

Angela Mahmoud M.A.

Kunsthistorikerin

Henry Kistner hat keine akademische Laufbahn eingeschlagen, sondern sich autodidaktisch zum Künstler herangebildet. Bei einem Werkzeugmacher und einem Steinmetz lernte Kistner zunächst sein Handwerk. Auf dieser Ausbildung gründet sein hoher Anspruch in Bezug auf handwerkliche Perfektion und seine ausgesprochen materialorientierte Arbeitsweise. Sein Drang, sich künstlerisch ausdrücken zu wollen, führte Kistner in verschiedene Ateliers, wo sich sein Talent immer stärker entfaltete. Der namhafte Maler Armand Warin wurde schließlich sein Mentor und lenkte den jungen Künstler auf den Weg in die Abstraktion.

Henry Kistner experimentiert sowohl als Bildhauer als auch in der Malerei unermüdlich mit Farben, Materialien und neuen Ausdrucksweisen, die sein künstlerisches Vokabular immer mehr bereichern und seine unverkennbare individuelle Formensprache stets weiter reifen lassen. So sind für seine Skulpturen ausgeprägte Kontraste der Oberflächen und Formen sowie kontrastreiche Zusammenfügungen von Materialien (Marmor, Edel- und Baustahl) charakteristisch. Spielerische Leichtigkeit wechselt mit geschlossenen Volumina, raumgreifende offene Formen mit der komprimierten Kraft kompakter Körper.

Die Auseinandersetzung mit dem Stofflichen, mit der Sinnlichkeit des Materials, sowie das ausgeprägte Gespür für den Raum, spiegeln sich auch in Kistners Gemälden wieder. Häufig erzielt Kistner in seiner Malerei eine nahezu plastische Wirkung, die von der bewusst herausgearbeiteten Struktur der Oberfläche, von der durch fein nuancierte Farbabstufungen erzielten tiefen Raumwirkung und von den fein heraus­gearbeiteten Schattenwürfen lebt.

Wie in der Bildhauerei variiert Henry Kistner auch in der Malerei den Grad der Abstraktion, hebt die Naturähnlichkeit auf, verleugnet jedoch nie gänzlich ihren Bezug. Den Hintergrund seiner abstrakten Kompositionen beispielsweise bildet ein scheinbar in unergründliche Tiefe führender Raum, dessen Farbe der Künstler variabel und völlig neutral wählt und damit eine eigene Welt, ein Spielfeld der Fantasie schafft. Die kräftigen und „unnatürlichen“ Farben stellen für Kistner eine Verbindung zur heutigen mediengeprägten Welt dar. Nicht zufällig jedoch wecken die dynamischen Farbstrukturen beim Betrachter Assoziationen an menschliche Gestalten. Sie bewegen sich vor oder in dem unergründlichen Raum als völlig freie Wesen. Das spannendste an der Gestaltung dieser Figuren aber ist für den Künstler die Tatsache, dass er den sie hervorbringenden Farbverlauf nur mithilfe des Zufalls realisieren kann. Das verleiht diesen Bildern eine selbstverständliche Natürlichkeit.

Dr. phil. Swantje Volkmann

Mit dem Vermögen, traditionellen Elementen eine neue Wesensbestimmung zuzuweisen, zeigt sich Henry Kistner als Bildhauer mit vorrangig innovativem Geist. Sein Formenvokabular orientiert sich dabei durchaus an Bekanntem und Klassischem; er fordert den Betrachter jedoch immer wieder durch überraschende Zusammenstellungen und Zuweisungen aufs Neue heraus.

Soweit bisher ersichtlich konzentriert sich der Künstler in seinem Werk auf zwei Hauptbereiche der Bearbeitung. Der erste Bereich umfasst thematische Konkretisierungen empfundener Gegenwart, partiell mit klassischer Thematik verbunden. Zu nennen sind hier Werke wie: „Mit vereinten Kräften“ oder „Beflügelt“. Morphologisch werden überwiegend abstrakte Formen gewählt und dargestellt.

Im zweiten Bereich dominiert die Auseinandersetzung des Künstlers mit grundsätzlichen Lebensfragen wie Geburt und Tod, sowie dem Willen, seelische Empfindungen nicht nur darzustellen, sondern in einen bewussten Dialog mit dem Betrachter zu treten. Dieser Bereich nimmt im Werk Kistners einen herausragenden Platz ein. Die Begegnung mit Grenzbereichen im Leben in seiner Zweitausbildung als Krankenpfleger initiierten Ideen, die artifiziell vor allem in Plastik, aber auch in Malerei umgesetzt wurden.

Dr. phil. Marina Sauer

Seit meiner Rückkehr aus Paris im Jahre 1990 ist mir Herr Kistner bekannt. Seine Entwicklung reicht von den ersten geschweißten Stahlobjekten die sich durch ihre spielerische Leichtigkeit auszeichnen,bis hin zur Auseinandersetzung mit der figurativen Bildhauerei des 20. Jahrhunderts.Henry Kistner s Stärke liegt in der Bildhauerei.

Noch steht er ganz in der Tradition der Nachfolge Rodins, indem Kistner seelische Erregungen und Empfindungen aus der Tiefe des Körpers oder des Blockes heraus und mit einer ins Allgemeinmenschliche erhobenen Größe darstellt. Figuren sind zuweilen nur so weit aus dem Block herausgearbeitet, dass das Wesentliche bloßgelegt ist. Auch symbolische Titel, wie „Atlas“, „Helios“ oder „Torso der Begierde“ verdeutlichen seine Auseinandersetzung mit der Bildhauerei des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Die drei letzten Skulpturen („Torso der Begierde“, „Atlas“ und „Torso 1“) weisen jedoch auf eine neue Schaffensperiode hin: Arbeitet er in „Torso der Begierde“ noch mit dem spannungsreichen Kontrast vonbearbeiteter und unbearbeiteter Form, so sind seine letzten Werke rhythmischer und kubischer in der Form, haptischer in der geglätteten Oberflächenbehandlung sowie ruhiger und geschlossener im Ausdruck. Ich könnte mir zunächst eine Entwicklung zur monumentalen, abstrakten Form vorstellen.